Lieber blind oder lieber taub? – Sinnesverlust auf dem Prüfstand

Die Frage „Lieber blind oder lieber taub?“ wirkt wie ein theoretisches Gedankenspiel. Eine harte Entweder-oder-Entscheidung zwischen zwei schweren Einschränkungen.

Doch wer sich ernsthaft mit ihr beschäftigt, wird schnell erkennen: Es geht nicht nur um Funktionalität oder Wahrnehmung, sondern um Nähe, Verbundenheit, Menschlichkeit. Besonders der Verlust des Hörsinns hat tiefgreifende emotionale Folgen – denn er betrifft nicht nur die Wahrnehmung von Klang, sondern die Verbindung zwischen Menschen.

Der Philosoph Immanuel Kant soll einst gesagt haben:

„Nichts sehen trennt von den Dingen, nichts hören von den Menschen.“

Und in kaum einem Satz wird die emotionale Tragweite eines Sinnesverlusts so präzise auf den Punkt gebracht.

Die Welt ohne Töne – emotionale Distanz durch Stille?

Taubheit bedeutet nicht einfach nur „nichts hören“. Es ist Stille, wo früher Musik war. Es ist das Fehlen einer Stimme, die beruhigt. Kein Lachen, kein Singen. Kein „Ich liebe dich“ im Originalton. Und das wiegt schwer.

Die größte emotionale Herausforderung bei Gehörlosigkeit ist oft die Barriere der Kommunikation. Sprache ist der Schlüssel zu Beziehungen. Wer nicht hört, muss andere Wege finden, um sich auszudrücken – Gebärdensprache, Lippenlesen, Schrift. Doch was passiert mit spontanen, leisen Momenten? Mit einem geflüsterten Trost? Mit dem Klang eines Lieblingsliedes, das an die Kindheit erinnert?

Hören ist Beziehung. Es ist Nähe in Klangform. Wer nichts mehr hört, verliert genau diese klangliche Brücke zu anderen. Die Welt ist nicht nur still, sie ist entfernt.

Viele Gehörlose – vor allem jene, die erst später ihr Gehör verlieren- berichten von einem Gefühl der „sozialen Entfremdung“. Gespräche in Gruppen, Telefonate, Musik – all das ist nicht oder nur schwer zugänglich. Und wenn emotionale Nähe über Worte aufgebaut wird, kann die Stille zur unsichtbaren Mauer werden.

Blindheit – verbunden trotz Dunkelheit?

Blindheit bedeutet, auf einen unserer zentralen Sinne zu verzichten. Farben, Gesichter, Mimik, Sonnenuntergänge, Kunst, Augenkontakt – all das wird zu einer vagen Erinnerung oder bleibt ein unentdecktes Mysterium. Doch vor allem eines geht verloren: der nonverbale Ausdruck von Emotionen.

Ein Blick sagt oft mehr als tausend Worte. Menschen kommunizieren unbewusst über Augenbewegungen, Stirnrunzeln, Lächeln. Wer blind ist, verpasst diese stummen, aber so tiefgreifenden Signale. Man hört die Stimme – ja – aber das Leuchten in den Augen eines geliebten Menschen bleibt unsichtbar. Das Gefühl, „gesehen“ zu werden, im wortwörtlichen wie im übertragenen Sinne, fehlt. Und das kann emotionale Einsamkeit bedeuten.

Doch viele Blinde berichten auch von einer tiefen Form von Intimität, die durch intensives Zuhören, Berührung und Präsenz entsteht. Emotionen werden gehört, gespürt – nicht gesehen, aber dennoch tief empfunden.

Der Verlust des Sehens wirkt demnach weniger trennend im zwischenmenschlichen Sinn. Natürlich fehlt der Blickkontakt, das Lesen von Mimik, die visuelle Schönheit der Welt. Aber: Die Stimme bleibt. Die Geräusche der Umgebung, das vertraute Lachen, das Flüstern, das Weinen – sie alle transportieren Emotionen. Die Welt ist dunkel – aber weniger einsam.

Wenn Sinnesverlust Beziehung bedeutet

Im Licht dieser Überlegungen erhält Kants Zitat eine besondere Tiefe: Ohne Sehen verlieren wir die Welt der Objekte, der Bilder, der äußeren Eindrücke. Aber ohne Hören verlieren wir den direkten Draht zu anderen Menschen.

Ob blind oder taub – beides verändert das emotionale Erleben grundlegend. Es ist jedoch kein Wettbewerb des Leidens, sondern eine unterschiedliche Art der Weltwahrnehmung. Die emotionale Einschränkung ist real – aber auch individuell verschieden.

Fazit: Es gibt keine „richtige“ Antwort

Die Frage „Lieber blind oder taub?“ ist letztlich eine Frage danach, wie wir mit der Welt verbunden sind – und was uns emotional trägt. Für viele ist es der Klang der Stimme, die Vertrautheit im Ton, die geteilte Sprache – für andere das Strahlen in den Augen unseres Gegenübers.

Was wir jedoch nicht außer Acht lassen sollten: Der Verlust des Hörsinns mag äußerlich still erscheinen. Doch innerlich kann er lauter schreien als jeder Lärm – weil er uns trennt. Von Gesprächen. Von Begegnung. Von spontaner Nähe.

Und vielleicht ist es genau das, was wir erkennen müssen:
Dass unsere Sinne nicht nur Fenster zur Welt sind – sondern Brücken zueinander.

Ein Appell: Hörgesundheit ist Beziehungs-Gesundheit

Schwerhörigkeit entwickelt sich oft schleichend und unbemerkt und wird viel zu lange unterschätzt. Dabei ist gutes Hören essenziell für unsere körperliche UND emotionale Gesundheit.

Deshalb:

  • Lassen Sie Ihr Gehör regelmäßig prüfen – spätestens ab 40 Jahren einmal jährlich.
  • Vermeiden Sie Lärmüberlastung – dauerhaft laute Musik über Kopfhörer oder ständiger Lärm im Job bzw. Hobby schädigen das Gehör langfristig.
  • Nehmen Sie erste Warnzeichen ernst – häufiges Nachfragen, Missverständnisse oder das Gefühl, andere sprechen undeutlich sind oft erste Anzeichen.

Je früher ein Hörverlust entdeckt wird, desto einfacher lässt er sich ausgleichen.

Schützen Sie ihr Gehör – damit Sie nicht nur hören, sondern dazugehören.

Erfahrungsbericht:

Der Moment, in dem alles leiser wurde

Als Thomas, 52 Jahre alt, zum ersten Mal bemerkte, dass er immer häufiger nachfragen musste, dachte er an Stress oder Müdigkeit. Dass er später in geselligen Runden kaum noch Gesprächen folgen konnte, schob er auf Hintergrundgeräusche. Erst als er immer häufiger außenvor war, musste er sich eingestehen: Etwas stimmt nicht.

Ein Hörtest brachte die Gewissheit: hochgradige Schwerhörigkeit auf beiden Ohren. Thomas sagt rückblickend:

„Ich habe nicht einfach Geräusche verloren. Ich habe das Gefühl verloren, dazuzugehören.“

Wenn Verbindung zur Anstrengung wird

Die Welt für Thomas veränderte sich schnell – und mit ihr sein soziales Leben. Gespräche wurden zur Herausforderung, Gruppensituationen zur Überforderung. Er erzählt:

„Ich saß mit Freunden am Tisch, alle lachten – und ich lachte mit. Nicht, weil ich verstanden hatte, sondern weil ich nicht auffallen wollte. Das war der Moment, in dem ich mich zum ersten Mal wirklich einsam unter Menschen fühlte. Ich merkte, wie ich mich zurückzog, nicht weil ich wollte – sondern weil ich die Welt nicht mehr richtig erreichte.“

Der soziale Rückzug kam schleichend, aber konsequent. Thomas war noch da, aber nicht mehr mittendrin. Was folgte, war eine Zeit voller Selbstzweifel, Scham und innerem Rückzug. Thomas sprach wenig über seine Gefühle. Doch die stille Verzweiflung wuchs.  Am Ende jedoch siegte der Wunsch, wieder aktiv am Leben teilzunehmen. Thomas entschied sich für eine umfassende audiologische Beratung.

Sein Hörverlust konnte durch eine apparative Versorgung mit Hörgeräten und einen therapeutischen Gehöraufbau stabilisiert werden.  Und auch um seine langfristige Zukunft macht Thomas sich mittlerweile keine Sorgen mehr: sollten Hörgeräte seinen Hörverlust nicht mehr adäquat ausgleichen, gibt es ja noch die Möglichkeit eines Cochlea Implantats. Seinen Hörsinn möchte Thomas auf keinen Fall bestmöglich erhalten.

Hinweis: Ein Cochlea-Implantat ist eine hochentwickelte Hörprothese, die vor allem bei hochgradiger Schwerhörigkeit oder Taubheit eingesetzt wird. Die Entscheidung für ein CI sollte immer in enger Absprache mit Fachärzt:innen und Audiolog:innen getroffen werden.]

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Christina Heinisch

Dr. Christina Heinisch ist promovierte Biologin und arbeitet seit 2009 im Bereich der therapeutischen Hörakustik. Ein ganzheitliches, patientenzentriertes Vorgehen bei der Hörgeräteversorgung ist für sie daher keine Option, sondern eine Notwendigkeit. Ihr Wissen zum Thema Hörgesundheit gibt sie in Workshops regelmäßig an Fachpersonal und Betroffene weiter.

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