Für die meisten Menschen ist es selbstverständlich, gut hören zu können, sich sprachlich leicht zu verständigen, Geräusche zu erkennen und zu identifizieren. So wird über die Auswirkung einer Hörschädigung häufig nicht weiter nachgedacht. Die fundamentale Bedeutung des Hörens für die alltägliche Lebensorganisation und den Zugang zu der sozialen Welt bleibt in der Regel weitgehend unreflektiert.
Dies ändert sich jedoch dann, wenn zunehmende Schwierigkeiten durch Hörprobleme auftauchen. Ist Ihnen schon mal aufgefallen, dass Sie darum bitten mussten, das eben Gesagte noch einmal zu wiederholen? Fällt es Ihnen vielleicht auch schwer, in einem „Stimmengewirr“ den Gesprächspartner herauszufiltern?
Schon ab Mitte 30 verringert sich die auditive Verarbeitung1 und damit das Sprachverständnis vor allem bei lärmendem Hintergrund zunehmend. Viele Betroffene fühlen sich dadurch in ihrer Kommunikation eingeschränkt und ziehen sich aus ihrem gewohnten sozialen Beziehungsnetz zurück. Die Folgen können ein Zusammenbruch der Kommunikation bis hin zur sozialen Isolation sein. Das muss nicht sein!
Missverständnisse vermeiden – So gelingt die Kommunikation
Um trotz Schwerhörigkeit eine gelungene Kommunikation zu erzielen, gibt es verschiedene Werkzeuge und Strategien. So finden Sie bereits viel Literatur, Videos, Seminare und sonstige Angebote über gute Kommunikation und die „Kunst des miteinander Redens“. Zwei sehr bekannte Beispiele sind das Modell der vier Ohren und vier Schnäbel von Friedemann Schulz von Thun2 oder das Konzept der gewaltfreien Kommunikation von Marshall Rosenberg.3
All diese Methoden und Konzepte verhelfen Ihnen im Alltag, Missverständnisse zu vermeiden, den anderen besser zu verstehen und mit verschiedenen Emotionen besser umgehen zu können. So steht beispielsweise die
Es kursieren aber auch zahlreiche Kommunikationsmythen, die oftmals psychologisch betrachtet mehr Schaden anrichten als Nutzen bringen. Um in diesem Dschungel eine Orientierung zu geben, werden im Folgenden Beitrag einige Wege vom Problem zur Lösung und die relevanten Hintergründe für Sie skizziert. Denn was für Normalhörende gilt, gilt ebenso für Menschen mit Hörverlust und für Schwerhörige. Jedoch sollten Letztere auf ein paar Aspekte mehr achten, damit Gespräche wirklich gut gelingen.
Missverständnisse vermeiden durch Achtsamkeit
Zunächst: Kommen Sie aus der Klischeeschublade heraus! Schwerhörigkeit geht mit zahlreichen Klischees einher, die jedoch häufig Kränkungen auslösen, da sie nur selten der Realität entsprechen. „Wer Hörgeräte trägt, ist alt.“, „Wer etwas beim ersten Mal nicht verstanden hat, wirkt eingeschränkt“ oder „Mit schwerhörigen Menschen muss man immer laut sprechen“. Das ist nicht der Fall!
Schwerhörigkeit bedeutet, dass bestimmte Frequenzen oder Lautstärken schwerer zu hören sind. Das bedeutet jedoch nicht automatisch, dass Sie immer laut sprechen müssen. Es ist wichtig, individuelle Erfahrungen und Bedürfnisse zu berücksichtigen, anstatt sich auf Klischeevorstellungen zu verlassen.
Ob und wie wir etwas hören, hängt nicht allein von der Funktion unserer Ohren ab. Vor allem unsere Hörverarbeitung im Gehirn ist für die Interpretation des Gehörten verantwortlich. Oftmals macht der Ton die Musik und entscheidet darüber, wie etwas Gesagtes beim Gegenüber wirkt. Genau diese Unterschiede in der Tonalität können bei Schwerhörigkeit jedoch häufig nicht oder nur eingeschränkt wahrgenommen werden. Es gilt daher noch genauer auf die Reaktionen der Mitmenschen zu achten und als Schwerhörige*r zunächst den Fehler in der eigenen Interpretation zu suchen, als Angehöriger aber auch mehr Verständnis für Fehlinterpretationen aufzubringen.
Wenn Sie Kommunikation mal aus einer ganz anderen Warte betrachten wollen, fokussieren Sie sich doch mal auf die Frage: „Wie können wir produktiv streiten?“. Auch das kann, wenn es auf eine gute Art gelingt, sehr heilsam sein und Beziehungen vertiefen.
Aus meiner therapeutischen Praxis weiß ich, das die Wahrnehmung und Interpretation von Gesagtem von den eigenen Emotionen und den vorhandenen Ressourcen beeinflusst werden. Sind Sie beispielsweise gestresst oder ängstlich, reagieren Sie möglicherweise empfindlicher auf laute oder unangenehme Geräusche. Auch Fehlinterpretationen treten häufiger auf und Gesagtes rutscht Ihnen schneller in den falschen Hals, wenn Sie gestresst sind. Kennen Sie das?
In solchen Situationen kommt es deshalb schneller zu Meinungsverschiedenheiten: Wer im Stress ist, ist nicht offen für die verschiedenen Aspekte einer Nachricht. Auf der anderen Seite können angenehme Klänge, wie zum Beispiel Musik, unsere Stimmung positiv beeinflussen und uns entspannen. Dann ist es möglich zum Beispiel, einem Missverständnis mit Humor zu begegnen, während in gestresstem Zustand ein gleiches Missverständnis dazu führt, dass ein Streit vom Zaun gebrochen wird. Schnell bricht dann ein Streit vom Zaun, während das gleiche Missverständnis in ressourcenreichem Zustand, also wenn Sie sich rundum gut fühlen, wahrscheinlich zu einem Lacher geführt hätte.3
Unser Tipp: Gehen Sie achtsam mit sich um. Wenn Sie merken, dass Sie alles nervt und Sie sich ständig mit Ihren Mitmenschen streiten, tanken Sie wieder Energie auf. Nehmen Sie solche Situationen wahr, übergehen Sie die Gefühle nicht und sprechen Sie es ehrlich an, dass Sie eine Pause brauchen. Nehmen Sie sich die Zeit, die Sie benötigen.
Missverständnisse vermeiden durch echtes Interesse
Die meisten Menschen können Heuchelei leicht entlarven. sowohl über die Körpersprache als auch über die Tonalität des Gesagten, nehmen wir in der Regel unbewusst wahr, wenn ein Gesprächsangebot kein echtes ist. Schwerhörigen Menschen gelingt das Hören der Unterschiede im Ton häufig nicht. Doch die Körpersprache kann weiterhin gut interpretiert werden. Daher sollten Angehörige immer ehrlich sein und nur dann einen Dialog führen, wenn sie das auch wirklich wollen. In einem Dialog, der diesen Namen verdient, Empfindungen des Gegenübers Respekt und Wertschätzung entgegenbringen.
Echtes Interesse bedeutet, den Gesprächspartner wahrzunehmen, seine Gedanken und Gefühle verstehen zu wollen und dafür aktiv zuzuhören. Stellen Sie Fragen, deren Antwort Sie tatsächlich erfahren möchten. Fragen Sie nach, wenn Sie etwas noch nicht verstanden haben. „Wie genau meinst du das?“ „Wie genau funktioniert das?“ usw. Stellen Sie sich die Frage: „Will ich das wirklich verstehen?“ Nur wenn die Antwort „Ja“ lautet, ist ein echter Dialog möglich.
Unser Tipp: „Ich sehe dich“ – so beginnt der wertschätzende Dialog zwischen zwei sich Liebenden in AVATAR (Cameron, 2009). Beginnen auch Sie zumindest gedanklich auf diese Weise den Dialog mit Ihrem Gesprächspartner. Denn es zeigt, den anderen vollständig wahrzunehmen. Seien Sie gänzlich bei ihm oder ihr, haben Sie echtes Interesse für seine oder ihre Worte, Gefühle und Emotionen.
Missverständnisse vermeiden durch Kenntnisse der Kommunikationstheorie
Und doch kann es bei bestem Willen beider Gesprächspartner immer wieder zu Missverständnissen kommen. Woran das liegen könnte, hat Schulz von Thun in seinem 4-Ohren-Modell erörtert.
(Es zeigt, was alles passieren kann, wenn Menschen miteinander in Kontakt treten, und womit sie rechnen können, wenn sich „das Zwischenmenschliche ereignet“. Folgendes Kommunikationsbeispiel verdeutlicht das:
Unterhaltungsbeispiel
Stellen Sie sich folgende Situation vor: Es ist ein ganz normaler Sonntagnachmittag. Sabine und Holger sitzen im Wohnzimmer. Holger stellt folgende Frage: „Gibt es noch Kaffee?“
Sabine fährt hoch. Es platzt aus ihr heraus und sie antwortet patzig: „Immer muss ich Kaffee kochen!“ Sie stürmt aus dem Zimmer.
Holger ist perplex. Er hatte nicht die Absicht, sie zum Kaffeekochen aufzufordern. Im Gegenteil! Vielmehr wollte er selbst für beide Kaffee kochen, wäre keiner mehr da gewesen. Was hatte er falsch gemacht?
Situationen wie diese passieren überall und ständig: Kommunikation zwischen Menschen ist oft kompliziert. Obwohl Sie sich gut fühlen und echtes Interesse zeigen, passieren dennoch schnell Missverständnisse. Warum ist das so?
Eine mögliche Antwort gibt das 4-Ohren-Modell. Eine zentrale Aussage von Friedemann Schulz von Thun ist, dass eine Nachricht immer aus vier Seiten besteht: der Sachseite, der Beziehungsseite, der Selbstoffenbarungsseite und der Appellseite.
Jede Information kann zudem auf vier Ohren gehört werden. Wird eine Nachricht auf einer anderen Ebene gesendet als empfangen, kann es zu Missverständnissen kommen.
In der Sachebene findet keine Interpretation statt und die Aussage wird so angenommen, wie sie ist. Im Beispiel wäre die Frage „Gibt es noch Kaffee?“ somit eine einfache Frage, die mit „Ja“ oder „Nein“ beantwortet werden kann. Diese Frage birgt keinerlei Konfliktpotenzial, da in einer sachlichen Kommunikation keine Emotionen ausgelöst werden.
Auf der Ebene der Selbstoffenbarung gibt der Sender eine Information über sich preis. Dies geschieht über die Wahl der Worte, Gestik, Mimik und Tonalität. Es werden Wünsche, Werte, Ansichten und Emotionen offenbart und der Empfänger hat die Möglichkeit den Sender besser kennenzulernen. So könnte Holger mit der Frage offenbaren, dass er durstig oder müde ist. Diese Ebene verleitet somit zu Interpretationen. Der Empfänger könnte das zum aktiven Nachfragen nutzen, zum Beispiel mit: „Weshalb fragst du?“
Die Beziehungsebene verrät, wie der Sender zum Empfänger steht. Gerade auf dieser Ebene spielen die Worte eine untergeordnete Rolle. Vielmehr zeigen Tonalität und Körpersprache, wie es um die Beziehung bestellt ist. In der Antwort von Sabine wird im oben aufgeführten Beispiel deutlich, dass die Beziehung von ihr zu Holger eher angespannt ist. Wäre die Beziehung gut, hätte sie ebenfalls aufstehen und den gleichen Satz sagen können, doch die Bewegungen wären anders gewesen und das Gesagte wäre mit einem Lächeln erfolgt.
Mit der Appellseite möchte der Sender den Empfänger zu einer Handlung bewegen. Im Fall von Holger und Sabine könnte Holger seine Frage auf der Appellebene durchaus als implizite Aufforderung gemeint haben, die von Sabine auch so verstanden wurde. Für eine gute Kommunikation sollte eine Aufforderung jedoch klar als solche formuliert werden. Hören Sie als Empfänger eine Nachricht auf dem Appellohr, sind sich jedoch unsicher, ob es so gemeint ist oder was Ihr Gesprächspartner von Ihnen möchte, sollten Sie nachfragen.
Unser Tipp: Machen Sie sich bewusst, dass Nachrichten immer aus 4 Ebenen bestehen. Sind Sie irritiert oder kommen in Ihnen negative Gefühle auf, fragen Sie ehrlich nach, bevor Sie interpretieren und handeln.
So können Sie Missverständnisse vermeiden
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Schulz von Thun in „Miteinander reden“ die Bedeutung einer ganzheitlichen Kommunikation betont, bei der sowohl die Sachinhalte als auch die Beziehungsebene und die individuellen Bedürfnisse der Beteiligten berücksichtigt werden. Auch dieses Kommunikationsmodell kann nicht zaubern, aber es zeigt auf, wie Missverständnisse vermieden werden können. Sie können daraus nützliche Schlussfolgerungen ziehen:
- Seien Sie sich bewusst, dass beim Empfänger und Sender vier Seiten existieren. Wenn Sie dies beachten, können Sie jede Aussage und Reaktion hinterfragen.
- Die vier Seiten sind bei jedem Menschen unterschiedlich stark ausgeprägt. Bestimmt kennen Sie Menschen, die sehr sensibel sind und besonders auf dem „Beziehungsohr“ aufhorchen. Oder andere Personen, die sehr stark in Aufforderungen und Apellen sprechen und hören.
- Wenn Sie sich nicht sicher sind, wie die Information gemeint war, fragen Sie nach, wie zum Beispiel „Was genau meinst du damit?“, „Was bedeutet XY für dich?“, “Was genau möchtest du wissen?“
- Formulieren Sie Ihre Aussagen präzise, besonders wenn Sie Sachinformationen mitteilen wollen. Manchmal hilft es auch, hinzuzufügen, dass die Frage oder Aussage rein sachlich gemeint ist.
- Werden Sie sich Ihrer eigenen Kommunikation bewusst. Dann können Sie Situationen im Alltag achtsamer steuern und Missverständnissen entgegenwirken.
Missverständnisse vermeiden durch Wissen
Das Modell der gewaltfreien Kommunikation von Marshall B. Rosenberg geht noch einen Schritt weiter. Es impliziert den beiderseitigen Willen der Gesprächspartner*innen, das Gegenüber wirklich verstehen zu wollen. Aktives Zuhören und Empathie sind die Basis dafür. Seine vier Schritte zur gewaltfreien Kommunikation beinhalten die Beobachtung, die ein bestimmtes Gefühl auslöst, die durch ein ungestilltes Bedürfnis entsteht, welches, in einer Bitte formuliert, zum Ausdruck kommt. Im Fall von Holger und Sabine könnte Holger, wenn er denn möchte, dass Sabine ihm einen Kaffee kocht, seine Bitte wie folgt formulieren:
Ich werde unkonzentriert und müde (Beobachtung), was mich nervös macht (Gefühl), weil ich heute noch so viel auf dem Schreibtisch habe. Ich möchte meine Sachen heute abarbeiten, damit wir zusammen einen entspannten Feierabend verbringen können (Bedürfnis). Ich würde mich deshalb sehr freuen, wenn du mir einen Kaffee brächtest (Bitte).
Indem Sie diese Kette aus Beobachtung, Gefühl, Bedürfnis und Bitte beachten, lernen Sie als Sprecher einmal Ihre eigenen Gefühle und Bedürfnisse kennen und wertschätzen, als aktiver Zuhörer können Sie diese aber auch aus jeder Botschaft herausfiltern, denn sie sind laut Rosenberg des Herz einer jeden Kommunikation. Gewaltfreie Kommunikation lehrt uns also wertschätzendes Feedback genauso wie das Senden von eindeutigen Ich-Botschaften, anstatt Forderungen zu stellen, die ja oft eher Killerphrasen sind. Statt „Du solltest“ formulieren Sie „Ich möchte“.
Wenn Sabine also hört „Gibt es noch Kaffee?“, könnte sie anstatt „Immer muss ich Kaffee kochen“ wie folgt formulieren: „Ich erfülle dir täglich viele kleine Wünsche, ob Kaffee, Schnittchen oder eine Nackenmassage, damit du schön entspannt im Home Office arbeiten kannst. Ich tue das gerne, weil ich dich liebe und möchte, dass es dir gut geht. Gleichzeitig frustriert mich, dass du mir nie einen Kaffee kochst oder mir einen kleine Aufmerksamkeit entgegenbringst. Ich wünsche mir mehr Wertschätzung und kleine Aufmerksamkeiten, die auch mir zeigen, dass du mich liebst. „Kannst du mir bitte einen Kaffee kochen“ und ein „Dankeschön“ wären für mich ein guter Anfang.“
Das Modell der gewaltfreien Kommunikation von Rosenberg bedarf jahrelangen Trainings, um es gut in die Alltagssprache integrieren zu können.
Wertschätzende Kommunikation und wertschätzendes Feedback und Kritik gelingt Ihnen mit folgenden Tipps:
- Ich-Botschaften aussenden
- Beobachtung, Gefühl, Bedürfnis, Bitte formulieren
- Bei objektiven Beobachtungen bleiben
- „Nicht-Gefühle“ vermeiden, wie „angegriffen, betrogen, gezwungen, ausgenutzt, nicht respektiert“ usw. Das sind Wertungen, keine Gefühle.
- Schlechte Gefühle eindeutig erkennen und benennen: traurig, wütend, frustriert, ängstlich, gelangweilt, deprimiert, verzweifelt, verwirrt usw. Das zwingt Sie einerseits, sich mit Ihrer Gefühlswelt auseinanderzusetzen und sich zu zentrieren, als auch Ihre eigenen Bedürfnisse anzuerkennen – die Voraussetzung für Eigenverantwortung und Selbstwirksamkeit.
- Killerphrasen vermeiden! Wertungen (Du siehst aber schlecht aus heute“), Empfehlungen („Du solltest eine Diät machen“), Drohungen („Wenn du nicht endlich lernst, aufzuräumen, ziehe ich aus“), Worte wie „Nie“, „Immer“.4
Erwartungshören
Hören ist ein vielschichtiger Vorgang, der sich aus peripheren und zentralen Vorgängen zusammensetzt. Die Welt des Schalls erschließt sich dem Menschen über das Gehör. Durch das Ohr und die Verarbeitung im Gehirn werden aus Schallwellen Hörempfindungen, Sprache und Musik, aber auch Krach und Lärm. Durch das Ohr kommt die Welt zum Menschen. Wie kein anderes Sinnesorgan vermittelt das Ohr ästhetisch und emotional höchst gegensätzliche Eindrücke.
Ebenso spielen psychologische Aspekte eine große Rolle beim Hören, beispielsweise unsere Erwartungen. Wenn Sie erwarten, ein bestimmtes Geräusch zu hören, sind Sie eher geneigt, es auch tatsächlich zu hören, selbst wenn es nicht wirklich vorhanden ist. Dies wird als Erwartungsverzerrung bezeichnet. Es macht deutlich, dass die Wahrnehmung durch psychologische Prozesse beeinflusst wird, wie etwa durch die Aufmerksamkeit, Erwartungen, Emotionen und Erfahrungen. Die Hörfilter im Gehirn können Geräusche selektiv ausblenden, wenn sie aktiv, also gesund sind.
So kann ich Ihnen aus meiner psychologischen Praxis von der Arbeit mit Familien berichten, dass nach einer therapeutischen Sitzung alle Teilnehmenden scheinbar in einer völlig unterschiedlichen Stunde waren! Jede*r behauptet etwas anderes, was die Therapeutin oder Mitglieder der Sitzung gesagt hätten. Das liegt mitunter daran, dass leichter das wahrgenommen wird, was zu den eigenen Werten, Empfindungen und Meinungen passt.
Hörverlust bereits ab mittlerem Erwachsenenalter
Die Einbuße der Hörfähigkeit gehört zu den typischen Belastungen im höheren Erwachsenenalter. Gewöhnlich gilt das 65. Lebensjahr als Grenze zwischen „alt“ und „nicht alt“. Doch schon im mittleren Erwachsenenalter lässt das Gehör bei vielen Menschen erst unmerklich, dann immer gravierender nach.5
Dem Gehör kommt entwicklungspsychologisch betrachtet eine wichtige Rolle zu. „Hören ist das erste und letzte Tun des Menschen. Wer auf die Welt kommt, kennt die Stimme der Mutter längst. Wer im Sterben liegt, hört, was um ihn geschieht, bis zum letzten Atemzug“.6 Im fünften Schwangerschaftsmonat hat das Hörorgan, die Innenohrschnecke Cochlea, ihre definitive Größe erreicht. Sie stellt das einzige Organ dar, welches nach der Geburt nicht mehr weiterwächst, sondern schon seine „Größe“ erreicht hat. Wir hören aber nicht nur mit den Ohren, sondern das Gehirn spielt dabei eine wesentliche Rolle.
Kommunikation ist ein wichtiger sozialer Baustein in der menschlichen Gesellschaft und für gute Lebensqualität eine wichtige Voraussetzung. Durch Kommunikation kann man wachsen oder zerbrechen, zueinanderfinden oder sich entzweien. Auch können Sie sich durch ein gutes Gespräch gegenseitig unterstützen, aber auch durch Missverständnisse oder Streit das Leben schwer machen.
Worte haben oft eine unterschätzte Wirkung. Die soziale Funktion der Kommunikation wird besonders bei schwerhörigen Menschen deutlich, da sich ein Hörverlust – abhängig von diversen Faktoren – mehr oder minder auf die Kommunikationsfähigkeit der Personen auswirkt. Hörgeschädigte Menschen sind in der Aufnahme und im Austausch von Informationen eingeschränkt, dadurch können Missverständnisse und Unsicherheit auftreten.7
Psychologische Aspekte: Kommunikation, Gehör und Psyche oder „Schwer-dazu-Gehörigkeit“
Es zeigt sich ein Spannungsfeld zwischen sozialer Akzeptanz und sozialer Stigmatisierung, was dazu führt, dass in der ein oder anderen Situation ein Gefühl von „zwischen den Stühlen sitzen“ auftritt. Einerseits wird versucht, auf das Gegenüber Rücksicht zu nehmen, aber andererseits platzt dann der Geduldsfaden, wenn etwas nicht richtig verstanden wurde. In jeder langen Beziehung und in Familien, aber auch in anderen Kontexten und Systemen finden sich immer wieder implizite Regeln, die eine große Macht haben: „Sprich nicht drüber, aber halt dich dran“.
Dies scheint auch auf die Schwerhörigkeit zuzutreffen. Denn zum Beispiel schwärmen wir von einem neuen Auto oder der teuren neuen Gleitsichtbrille, ein neues Hörgerät jedoch wird oft nur Ausgewählten offenbart, wenn überhaupt.
Schlechtes Hören ist leider gesellschaftlich immer noch verknüpft mit „dumm sein“. So stammt auch das Wort „dumm“ vom mittelhochdeutschen „tumb“ – „taub“!8
Auch sind eher Klagen darüber zu hören, dass andere nuscheln und undeutlich sprechen, als das offene Eingeständnis „ich höre nicht (mehr) so gut“. Die demografische Entwicklung führt hier jedoch zwangsläufig zu einem größeren Anteil an Betroffenen, die meinen, gut zu hören, aber in Wirklichkeit schlecht verstehen.
INFOBOX: Funktionen des Hörens
Das Hören erfüllt verschiedene Funktionen, die dabei helfen, die Umgebung wahrzunehmen und mit ihr zu interagieren. Um die Auswirkungen eines Hörverlusts für die psychosoziale Situation Betroffener zu verstehen, muss der Blick auf die Funktionen des Hörens gerichtet werden. In der Literatur werden die Funktionen des Hörens unterschiedlich differenziert: es ermöglicht Kommunikation, hat also neben sozialer auch eine emotional-ästhetische sowie eine Orientierungs- und Alarmierungsfunktion .
Diese verschiedenen Funktionen des Hörens sind eng miteinander verbunden und ermöglichen es, die Umwelt umfassend wahrzunehmen und sich in ihr zu orientieren. Sie spielen eine wichtige Rolle im Alltag und beeinflussen die sozialen Interaktionen, emotionalen Erfahrungen und die Sicherheit. Neben dem Austausch von Informationen können Sie beispielsweise die Stimmung einer Person an der Stimme erkennen, ihre Absichten und Emotionen verstehen und sich dadurch in sozialen Situationen angemessen verhalten.
Die emotional-ästhetische Funktion des Hörens bezieht sich auf die Fähigkeit, Musik genießen und darauf reagieren zu können. Sicher kennen Sie das, dass Musik Freude, Trauer, Anspannung oder Entspannung vermittelt und Ihre Stimmung somit maßgeblich beeinflusst oder dass Sie sich voller Genuss einer Melodie hingeben und sie genießen. Das Hören von Klängen und Geräuschen kann auch Erinnerungen hervorrufen, so wie das Hören eines alten Schlagers eine Person unvermittelt in ihre Jugendzeit katapultieren kann und dadurch lang verlorene Erinnerungen wach werden können. Misstöne, wie zum Beispiel der Klang des Zahnarztbohrers, können aber ebenso gut unangenehme Gefühle auslösen.8
Die Orientierungs- und Alarmierungsfunktion des Hörens ermöglicht es, die Umgebung wahrzunehmen und sich darin zu orientieren. Durch das Hören können beispielsweise die Richtung und Entfernung von Geräuschen bestimmt und so Gefahren erkannt werden oder es kann sich in unbekanntem Terrain zurechtgefunden werden. Sicher kennen Sie es, dass es manchmal schwierig ist, zu orten, woher das Martinshorn eines Krankenwagens kommt. Das Hören von Alarmsignalen warnt vor potenziellen Gefahren und ermöglicht es, schnell zu reagieren und entsprechend zu verhalten.9
Bei gelungener Kommunikation sollten Sie all diese Aspekte im Hinterkopf behalten. Modelle für gelungene Kommunikation beschäftigen Menschen schon seit Jahrhunderten und viele der Regeln haben seit der mittelalterlichen Rhetorik nicht an Aktualität verloren. Moderne Kommunikationstheorie und Psychologie ergänzen diese Grunderkenntnisse. Daher nun unsere 10 Tipps, wie Sie Missverständnisse – trotz Schwerhörigkeit – vermeiden können:
10 Tipps, um Missverständnisse zu vermeiden – trotz Schwerhörigkeit
- Nehmen Sie sich Zeit!
Wichtiges sollten Sie nur dann besprechen, wenn sowohl Sie selbst als auch Ihr Gesprächspartner Zeit dafür haben. Versuchen Sie nie etwas Wichtiges zu besprechen, wenn Ihr Gegenüber nicht dazu bereit ist, er oder sie mit etwas anderem beschäftigt, müde oder hungrig ist. Warten Sie den richtigen Zeitpunkt ab, in dem Sie die volle, entspannte Aufmerksamkeit Ihres Gegenübers haben.
- Lassen Sie sich nicht ablenken!
„Schau mir in die Augen.“ Offener Blickkontakt ist essenziell, um die Reaktionen Ihres Gegenübers wahrzunehmen. Suchen Sie einen geeigneten Ort für das Gespräch aus. Wählen Sie lieber eine ruhige Umgebung, um schwierige Themen anzusprechen. Ihr Gegenüber wird sich nicht nur wertgeschätzt fühlen, weil Sie ihm oder ihr Ihre volle Aufmerksamkeit schenken, sondern Sie werden gegenseitig besser Ihre Worte verstehen und somit Missverständnisse vermeiden.
- Ich-Botschaft „Ich fühle mich…“
Ehrlichkeit raubt jegliche Angriffsfläche und ist entwaffnend: Leiten Sie das Gespräch mit einem ehrlichen persönlichen Eindruck oder Gefühl/Empfinden ein, ohne einen Vorwurf oder eine Wertung daraus zu formulieren. Damit erreichen Sie zweierlei: Sie müssen sich Ihrer Position und Ihrer Gefühle zum Thema bewusstwerden, gleichsam mit (emotional) offenen Karten spielen und kommen somit nicht in die Gefahr von Mutmaßungen und Anschuldigungen. Ein guter Anfang für wertschätzendes Feedback.
- Hören Sie bewusst zu und lassen Sie Ihr Gegenüber ausreden
Zuhören ist eine hohe Kunst. Lassen Sie die Gegenseite ausreden, seien Sie geduldig. Besonders, wenn Kritik fällt, überlegen Sie nicht schon in Gedanken Ihre Entgegnung/Verteidigung, wenn das Gegenüber noch nicht zu Ende gesprochen hat. Es geht nicht um „Ping-Pong“ bei guter Kommunikation! Erkundigen Sie sich danach, wie Ihr Gegenüber zu dieser Meinung gekommen ist – auch wenn es schwerfällt. Aller Anfang ist schwer, doch jedem Anfang wohnt zugleich ein Zauber inne.
- Berücksichtigen Sie, wie Ihr Gegenüber gestimmt ist!
Es ist in Ordnung, bei manchen Themen zu schmunzeln, aber ein dreistes Grinsen kann gute Kommunikation jäh unterbrechen. Wenn das Thema ernst ist, gehen Sie wie ein Spiegelbild auf die Stimmung des Gegenübers ein. Nur dann fühlt sich der oder die Kommunikationspartner*in ernst genommen und wird sich öffnen.
- „Wiederholung ist die Mutter des Erfolgs“! Wiederholen Sie zuerst und setzen dann erst den Gedanken des Gegenübers fort!
Versuchen Sie die Kernaussage ihres Gegenübers in Ihrer Antwort zuerst zusammenzufassen, bevor Sie einen neuen Inhalt anbringen. Probieren Sie Formulierungen wie „Habe ich richtig verstanden, dass …“, „Ich fühle mich dabei …“. Möglich ist, dass sich dadurch schon Missverständnisse im Entstehen auflösen.
- Drücken Sie sich klar aus!
Sie erreichen weitaus mehr, wenn Sie Wünsche positiv formulieren: „Ich wünsche mir, dass Du den Müll bis morgen rausbringst“ ist eindeutig und wertfrei formuliert. „Nie kümmerst Du Dich um den Haushalt“ ist dagegen eine pauschale Kritik und vermittelt nicht die eigenen Bedürfnisse.
- „Alte Hüte“ erschweren das gemeinsame Ziehen an einem Strang
Wenn es beginnt, hitzig zu werden, sollten Sie nicht alte Kamellen aus dem Ärmel ziehen, sondern machen Sie die Kommunikation lieber zur Kooperation! Bleiben Sie beim Thema und versuchen Sie, ein „win – win“ Ergebnis zu erreichen. Kommunikation ist kein Kampf, und es geht nicht ums Rechthaben. Wenn es am Ende Gewinner*innen und Besiegte gibt, werden beide damit nicht beglückt.
- Kränkungen haben in guter Kommunikation nichts verloren.
Wenn Sie sich selbst bereits verletzt fühlen, dann sagen Sie das ehrlich und schlagen Sie nicht zurück, indem Sie Ihr Gegenüber herabsetzen. Unterbrechen Sie den Teufelskreis, anstatt zurückzuschlagen – Sie werden Ihrem persönlichen Ziel damit wesentlich näherkommen!
- Frauen reden anders! Männer auch! Unterschiedliche Kommunikation der Geschlechter!
Zu diesem Thema gibt es Untersuchungen, die ganz verschiedene Standpunkte vertreten10. Eine wissenschaftsbasierte Aussage lässt sich nicht treffen. Dennoch kann davon ausgegangen werden, dass auch das Geschlecht bei der Kunst des Miteinander Redens eine Rolle spielen kann. Vermeiden Sie verallgemeinernde Aussagen und geschlechtliche Diffamierungen. Fühlen Sie sich in Ihre*n Gesprächspartner*in ein und stellen Sie sich vor, wie Sie sich an deren/dessen Stelle fühlen würden.
Zusatztipp 1: Fragen Sie nach! Wenn Sie etwas nicht verstehen, sich schlecht oder angegriffen fühlen, fragen Sie nach, bevor Sie handeln. So können schnell Missverständnisse beseitigt werden.
Zusatztipp 2: Vermeiden Sie Missverständnisse durch ein gutes Gehör. Ab Mitte 30 lässt das Hörvermögen nach. Lassen Sie deshalb regelmäßig Ihre Hörfilter messen und beginnen Sie frühzeitig mit Rehabilitationsmaßnahmen. Unser terzo-Hörakustiker*innen unterstützen Sie hierbei gerne und kompetent.
Fazit
Kommunikation ist essenziell für die menschliche Gemeinschaft und für gelungene Beziehungen. Eindeutige, wertschätzende Botschaften zu senden und zu empfangen kann gelingen! Modelle können uns dabei helfen, Kommunikation zu verstehen und Lösungen zu finden, um Missverständnisse zu vermeiden. Ist der Hörsinn beeinträchtigt, leidet das Verständnis oft noch mehr, da Tonalitäten nicht mehr gut wahrgenommen und Worte schlechter verstanden werden. Hier gilt es, Verständnis dafür aufzubringen und noch genauer hinzuhören, was der oder die Schwerhörige wirklich für ein Bedürfnis hat. Bleiben Sie ruhig und gelassen, fragen Sie nach und zeigen Sie echtes Interesse, um auf einer gemeinsamen, gleichberechtigten Ebene zu kommunizieren.
Ihre Erfahrungen
Kennen Sie in Ihrem Umfeld Menschen, die nicht mehr gut verstehen? Oder haben Sie bei sich selbst schon Hörschwierigkeiten festgestellt? Wie gehen Sie mit den verschiedenen Situationen um? Würden Sie in Zukunft Betroffene mehr dazu raten, frühzeitig etwas gegen den Hörverlust zu unternehmen?
Schreiben Sie uns Ihre Erfahrungen!
Wir hören uns.
Ihr terzo-Team
Literaturverzeichnis
1
Gebhardt, C. (2006). Hören mit Hirn. Wirksamkeit eines Trainings der auditiven Differenzierungsfähigkeit. bei Schwerhörigen im Alter von 55 bis 70 Jahren. Universität Freiburg
2
Rosenberg, M.B. (2004). Gewaltfreie Kommunikation. Eine Sprache des Lebens. Junkermann. Paderborn
3
Schulz von Thun, F. (1998). Miteinander reden. Reinbek: Rowohlt
4
Bitschau, K. I. (2008). Die Sprache der Giraffen. Zur Qualität zwischenmenschlicher Beziehungen. Junfermann. Paderborn.
5
Gebhardt, C. (2006).Hören mit Hirn : Wirksamkeit eines Trainings der auditiven Differenzierungsfähigkeit bei Schwerhörigen im Alter von 55 bis 70 Jahren. Dissertation, Albert-Ludwigs-Universität, Freiburg. https://freidok.uni-freiburg.de/data/2634
6
Hellbrück, J. (2004). Hören. Physiologie, Psychologie und Pathologie (2. Aufl.). Göttingen: Hogrefe.
7
Tesch-Römer, C. (2001). Schwerhörigkeit im Alter. Belastung, Bewältigung, Rehabilitation.
Heidelberg: Median
Urban & Vogel. Bei Hörschäden auf Depressionen achten. MMW – Fortschritte der Medizin 156, 1 (2014). https://doi.org/10.1007/s15006-014-2821-4
Und Meine Dissertation, s.o.
8
Tesch-Römer, C. (2001). Schwerhörigkeit im Alter. Belastung, Bewältigung, Rehabilitation.
Heidelberg: Median
9
Tesch-Römer, C. & Wahl, H.-W. (1996). Seh- und Höreinbußen älterer Menschen.
Darmstadt: Steinkopf.
Tesch-Römer, C. (2001). Schwerhörigkeit im Alter. Belastung, Bewältigung, Rehabilitation.
Heidelberg: Median
10
Johanna Dorer, Brigitte Geiger, Brigitte Hipfl, Viktorija Ratković (2020). Handbuch Medien und Geschlecht. Perspektiven und Befunde der feministischen Kommunikations- und Medienforschung. Springer